Die dunkelgrüne Plastikpalme

Die dunkelgrüne Plastikpalme

Wütend zog Sabine ihre Züge in diesem kleinen, stark nach Chlor riechenden Hotelpool. In der einen Ecke des Raumes fristete eine verstaubte dunkelgrüne Plastikpalme ihr klägliches Dasein. „Die glauben doch wohl nicht, dass so ein künstliches Irgendwas die Atmosphäre verbessert“, schnaubte sie innerlich und zuckte unwillkürlich zusammen. Da war es wieder, das Wort, vor dem sie versuchte, davon zu schwimmen. »Künstlich« – es schien sie in letzter Zeit zu verfolgen.

Vor zwei Wochen hatte ihr Lebensgefährte es ihr in einem Streit an den Kopf geworfen: „Deine künstliche Aufregung geht mir so langsam richtig auf den Geist. Du nervst.“ Dann war es ihr im Feedbackgespräch mit ihrer Chefin wieder begegnet. „Ihre Präsentationen wirken oft so künstlich. Ich kann Ihnen das gar nicht so genau erklären. Auch nicht, wieso dann oft so viele im Team genervt sind oder gelangweilt sind.“ „Super, vielen Dank für dieses Feedback“, hatte sie innerlich gedacht, während sie ihre gesammelte Kraft brauchte, um die Tränen zurückzuhalten.

Heulen kam nun wirklich nicht infrage. Das hatte sie schon früh gelernt. Immer wenn ihr Vater mal wieder ihren älteren Bruder bevorzugte und sie gemein behandelte, hatte sie anfangs ihren Schmerz und ihren Ärger darüber deutlich gezeigt. Das hatte die Dinge nur schlimmer gemacht. Später war sie dann wortlos in ihr Zimmer gerannt und hatte sich erst dort die Tränen erlaubt.

Entgegengesetzte Körpersignale irritieren die Zuhörer

„Ich wollte Ihnen ein Coaching anbieten, damit Ihre Vorträge authentischer werden“, drang wie durch Watte die Stimme ihrer Chefin an ihr Ohr, „wir arbeiten mit einem Pool sehr guter Coaches zusammen. Ich hatte an einen NLP-Coach gedacht.“ Da Sabine kein guter Grund einfiel, das Angebot abzulehnen, sagte sie zu.

Und so hatte sie sich dann am Institut ihres Coaches wiedergefunden. Diese hatte ihr vorgeschlagen, einen ihrer Vorträge auf Video aufzunehmen und dann weiterzusehen. Als Sabine sich dann die Aufnahme ansah, verstand sie das Feedback der anderen. Sie war von sich selbst genervt. Da war dieser ständig aggressive Unterton in ihrer Stimme. Gleichzeitig machte sie sich klein – sie zog die Schultern ein, legte den Kopf schief und blickte auf den Boden anstatt ins Publikum. Verdammt, was war das?

Sekundärgefühle langweilen und nerven

Gerade wollte sich Niedergeschlagenheit in ihr breit machen, als die Stimme ihres Coaches an ihr Ohr drang: „Wissen Sie eigentlich, was Sekundärgefühle sind?“ Nein, dieser Begriff war ihr noch nicht untergekommen. Frau Stein, ihr Coach, erklärte: „Die meisten von uns lernen in der Herkunftsfamilie, dass manche Gefühle dort in Ordnung sind, andere dagegen vermeintlich nicht. So wird Frauen beispielsweise nach wie vor häufig antrainiert, dass es sich für sie nicht gehört, wütend zu sein. Wenn sich ein kleines Mädchen also über irgendwas ärgert und vielleicht seine Spielsachen durch die Luft wirft, bekommt es dafür nur noch mehr Ärger. Macht es sich dagegen klein und unsichtbar, lernt es, dass es damit besser durchkommt.“ Dies war in der Tat genau das Schema, das sie aus ihrer Kindheit ziemlich genau kannte.

„Und was hat das damit zu tun, dass andere so oft von mir genervt sind?“, fragte sie Frau Stein. „Nun“, erläuterte diese, „nur weil man seine Wut nicht zeigen darf, ist diese ja nicht weg. Im Gegenteil. Sie zeigt sich dann an einer Stelle, die man nicht gut kontrollieren kann – zum Beispiel im Tonfall. Gleichzeitig versucht man den Erwartungen ehemaliger Bezugspersonen zu entsprechen – und macht sich zum Beispiel körpersprachlich klein. Dieses Vorschieben eines Gefühls vor ein anderes nennt man Sekundärgefühl. Das ist sozusagen ein zweites Gefühl, das vor ein erstes geschoben wird.“ „Aha“, meinte Sabine nur. Und während sie noch damit beschäftigt war, diese Informationen zu verarbeiten, fuhr Frau Stein fort: „Aus Sicht des Kindes von damals, das auf die Liebe seiner Eltern angewiesen ist, sehr nachvollziehbar. Wenn dieses Verhalten später auf Autopilot läuft, spürt das Umfeld, dass ein Anschein erzeugt werden soll, der so nicht stimmt. Deswegen reagiert es genervt.“

Endlich authentisch

Sabine war gleichzeitig erleichtert und besorgt. Erleichtert, weil sie nun verstand, wo die Reaktion ihres Umfelds herkam. Und besorgt, denn: Was nun? „Keine Sorge“, beruhigte sie Frau Stein, „da gibt es bewährte Wege, wie Sie diese alte Wut loslassen und sich gleichzeitig nicht mehr künstlich klein machen müssen. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gleich einen.“ Und wie Sabine wollte! Erschöpft, aber zufrieden verließ sie eine Stunde später das Institut ihres Coaches. Der nächste Termin war bereits fest vereinbart.

Als sie drei Monate später den nächsten Vortrag vor dem Steering Committee hielt, nahm sie sich als Talisman eine kleine grüne Plastikpalme mit – als Erinnerung daran, dass »künstlich nicht gut kommt«. Im anhaltenden Applaus, als ihre letzten Worte verklungen waren, bestand die schönste Belohnung für die Anstrengungen der rückliegenden Monate.

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