Der Schatten der Chefin – NLP-Kurzgeschichte von Dr. Susanne Lapp

Der Schatten der Chefin – NLP-Kurzgeschichte von Dr. Susanne Lapp

„Wieso kriegen Sie eigentlich nie etwas im ersten Anlauf hin?“, fauchte Frau Unschuld ihre Sekretärin an in deren ordentlich aufgeräumten Büro. Frau Unschuld hatte Zornesfalten auf der Stirn und hektische Flecken am Hals. Wieso musste eigentlich immer sie dieses Pech haben und an völlig unfähige Sekretärinnen geraten?

„Noch letzte Woche haben Sie mich gebeten, bei der Ablage immer zuerst mit dem Namen zu beginnen und dann erst den Titel einzupflegen“, versuchte sich Frau Bandler zu rechtfertigen. „Ja natürlich, aber dass das hier eine Ausnahme sein muss, ist doch ganz offensichtlich!“ rief Frau Unschuld genervt aus. „Schließlich haben wir es nicht jeden Tag mit einem DAX-Vorstand zu tun.“

Frau Bandler verstand gar nichts mehr. Was hatte das mit der Frage der Anlage in dem Kontakteordner zu tun? „Aber …. “ wollte sie noch einmal ansetzen. „Nun werden Sie nicht frech! Das ist alles nun wirklich nicht meine Schuld“. Die Stimme ihrer Chefin erreichte langsam hysterische Höhen.

Früher wäre Frau Bandler an dieser Stelle in sich zusammengesunken. „Du bist auch einfach zu doof“, hätte sie sich selbst gescholten. Den Satz hatte sie früher beinahe täglich von ihrem Vater gehört und es lange Jahre tatsächlich geglaubt.

Doch spätestens seit ihrer NLP-Ausbildung wusste sie, dass jeder für sein Handeln selbst verantwortlich ist. Sie war weder für die Hysterie ihrer Vorgesetzten noch für die ewige Mysogonie ihres Vaters zuständig. Schon besserte sich ihre Laune und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Mensch, Frau Unschuld, Sie haben es aber auch schwer“ entfuhr es ihr. Sie wollte eine leise Ironie nicht mehr unterdrücken. Frau Unschuld öffnete den Mund – nur um ihn dann wortlos wieder zu schließen. „Ähhh …“ stammelte sie und sah aus wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Frau Bandler hörte noch die Stimme ihrer Trainerin im Ohr: „Jedes Mal, wenn Ihr Euch als Opfer fühlt, geht davon aus, dass es einen gleich großen Täter-Anteil in Euch gibt. Den seht Ihr aber nicht, weil er im Schatten ist.“ Diesen Satz hatte sie lange nicht verstanden. Heute war er ihr klar geworden: Ihr Chefin, diese wandelnde selbst ernannte Unschuld, fühlte sich ständig als Opfer der Umstände und der – vermeintlich – unfähigen Mitarbeiter. Gleichzeitig benahm sie sich wie der größte Bulli des Schulhofs, eben wie eine Täterin.

Den Spruch, den sie gestern Abend beim Chinesen im Glückskeks gefunden hatte, schien ihr jetzt doch nicht mehr so überzeugend: „Wende dein Gesicht der Sonne zu. Dann fallen die Schatten hinter dich.“ „Stimmt“ dachte sie, „doch dadurch sind sie nicht weg. Lediglich du siehst sie dann nicht mehr. Alle anderen jedoch durchaus.“ Fast tat Frau Unschuld ihr leid.

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